Strange Days ✍

Gestattet mir eine kurze persönliche Retrospektive! Gerade einmal zarte 14 Jahre hatte ich auf dem Buckel als das letzte Jahrtausend hyperventilierend seine finalen Zuckungen vollführte. Cool war die Vorstellung, dass das Ende der Welt bevorstünde, begleitet von pubertären Schulhofdiskussionen, die sich um die Suche nach den besten Logenplätzen rankten – unser Umgang eben mit der spürbaren allgemeinen Nervosität, die die Medienwelt genüsslich propagierte. Kathryn Bigelow’s Thriller „Strange Days“ greift genau dieses Szenario auf und macht es zum Aufhänger für einen der wohl abgefahrensten Trips des 90er-Kinos. Ein Trip, der sich im Produktionsjahr 1995 kommerziell alles andere als einen Selbstläufer nennen durfte, weshalb auch ich schändlich gestehen muss, dass er bis jetzt komplett an mir vorübergegangen war.

Im Mittelpunkt der Handlung steht ein Antiheld, wie er im Buche steht. Lenny Nero (Ralph Fiennes) ist ein Excop in L.A., der das Prinzip der Karriereleiter etwas missverstanden hat und sich entschloss, seine Brötchen als Dealer auf der Straße zu verdienen. Das tut er nicht mit handelsüblichen Drogen, sondern mit einer neuartigen (und natürlich illegalen) Cybertechnologie in Form von Minidiscs, die, zusammen mit der entsprechenden Hardware, dem Konsumenten die Möglichkeit bietet, die aufgezeichneten Erlebnisse eines anderen mit allen 5 Sinnen nachzuerleben. Es versteht sich von selbst, dass der zu Grunde liegende Prototyp von staatlich geförderter Institution entwickelt wurde. Ebenso zweifelsfrei liegt es in der Natur des Loserkarmas, Schwierigkeiten magisch anzuziehen, und so gerät unser Protagonist durch miese Umstände an ein Tape, dessen Besitz nicht nur ihn selbst dauerhaft in seiner Darreichungsform beeinträchtigen könnte. Auch das gesamte, ohnehin schon nach Veränderung dürstende, Kleinbürgertum triebe es in die Anarchie. Was darauf folgt, ist eine Achterbahnfahrt voller Verschwörungen, unerwiderter Liebe und Verrat, so sympatisch-überspitzt, eindringlich und wendungsreich inszeniert, dass ich voller Inbrunst und Überzeugung den Meisterwerk-Status verhänge.

Allein schon die Einführungssequenz, die einen Bankraub aus der Egoperspektive zeigt, stampft jedes Mockumentary-Machwerk in den Boden als perfekt gestellte Actionszene, deren harter Cut effektiver nicht sein könnte. Weiterhin schafft das Drehbuch die Gratwanderung zwischen fast schon witziger Pechvogelsympatisierung und knallhartem Gewaltszenario, das einem stellenweise durch Mark und Bein geht. Dabei werden moralische Fragen aufgeworfen, die mich als Beobachter zwischen Faszination und Abscheu pendeln ließen. Dass Lenny sich alle paar Minuten seine Packung Prügel abholt, ist, trotz des Mitleids für seine tragische Figur, noch als charmanter Running Gag einzustufen. Bitterböse wird es, wenn er unfreiwillig in einem der angesprochenen Clips Zeuge der Vergewaltigung und Ermordung einer guten Freundin wird und dies entsprechend der Technologie zu allem Überfluss in vollem Umfang „fühlt“.

In diesen Szenen wird klar, dass dies defintiv ein Film für ein reifes, differenzierungsfähiges Publikum ist. Die dankbare Erdung findet dabei durch das Verhältnis von Lenny und seiner hadernden, aber letztendlich bedingungslos loyalen Wegbegleiterin Mace (Angela Bassett) statt. Beide zeigen ein wunderbar harmonierendes, weil gleichwertiges Schauspiel unter ständigem „Ballwechsel“. Auch Juliette Lewis begeistert als elektrisierende Femme Fatale und stellt nebenbei auch noch ihre Fähigkeiten als Rockröhre unter Beweis. Am Rande der Haupthandlung ist permanent der brodelnde gesellschaftliche Hexenkessel zu spüren, der expressiv den Wunsch nach Umbruch transportiert. Ein Thema, das jetzt, zum 20. Jubiläum von Strange Days, präsenter denn je ist.

Natürlich könnte ich jetzt noch nach dem berühmten Haar in der Suppe suchen, diverse Logiklöcher oder Continuityfehler offenbaren. Mein Filmherz sträubt sich in diesem ganz besonderen Fall jedoch dagegen und möchte stattdessen die letzten Zeilen dafür nutzen, um eine uneingeschränkte Empfehlung für diese beinahe vergessene Perle auszusprechen. Ein Muss für jeden erwachsenen Filmliebhaber! — (Ein Gastbeitrag von Frank)