Men & Chicken ✍

Etwas ist faul im Staate Dänemark

Anders Thomas Jensen: Multitalent. Autodidakt. Preisgekrönter Regisseur und Drehbuchautor. Seine Filmografie liest sich wie das Best of des dänischen Kinos der letzten 20 Jahre, er erhielt einen Oscar für seinen Kurzfilm WAHLNACHT, eine Oscar-Nominierung für Susanne Biers NACH DER HOCHZEIT, für den er das Drehbuch schrieb, Oscar für den besten ausländischen Film für IN EINER BESSEREN WELT. Er war am Drehbuch einiger der wichtigsten Dogma-Filme beteiligt, Kult-Klassiker wie IN CHINA ESSEN SIE HUNDE, OLD MEN IN NEW CARS, WILBUR WANTS TO KILL HIMSELF und der erst kürzlich gelaufene THE SALVATION stammen aus seiner Feder, seine Regiearbeiten FLICKERING LIGHTS, DÄNISCHE DELIKATESSEN und ADAMS ÄPFEL toppen dieses Oeuvre, das vor Kreativität, Vielseitigkeit und Tatendrang nur so brodelt.

Sein letzter Film als Regisseur, ADAMS ÄPFEL, liegt nun schon 10 Jahre zurück, doch sein neuestes Werk MEN & CHICKEN knüpft thematisch auf mehreren Ebenen an seine Vorgänger an: Wie bereits in FLICKERING LIGHTS und ADAMS ÄPFEL betrachtet Jensen eine skurrile, absurde und zu Gewaltausbrüchen neigende Männergruppe, die im Verlauf die eigene Vergangenheit und Traumata aufarbeitet: Die Brüder Elias (David Dencik) und Gabriel (unter dem Lockenschopf und dem monströsen Schnauzbart kaum zu erkennen: Mads Mikkelsen) erfahren nach dem Tod ihres Vaters, dass sie adoptiert sind und machen sich auf die Suche nach ihrer leiblichen Familie. Auf einer verlassenen dänischen Insel treffen sie in einem offen gelassenen Sanatorium, das von den im Hof gehaltenen Tieren schon fast gänzlich erobert scheint, auf ihre drei Halbbrüder Franz (Søren Malling), Josef (Nicolas Bro) und Gregor (Nikolaj Lie Kaas), die ihnen den Zugang zum über 100-jährigen Vater, Thanatos, verwehren. Dieser hatte das Krankenhaus bis ins hohe Alter geleitet und sich der Genforschung verschrieben, nun sind die Männer sich selbst überlassen und hausen mit ihren Tieren in einer merkwürdigen Symbiose auf dem Gelände.

Von dieser einfachen Ausgangssituation entspinnt sich ein Reigen aus schwarzem Humor und derbem Slapstick: Die gänzlich von der Außenwelt abgeschnittenen Halbbrüder prügeln gerne mit ausgestopften Tieren aufeinander ein, bei genauem Hinsehen, ist eine Vielzahl von wolpertingerartigen Lebewesen im und um das Haus herum unterwegs und die Brüder verbindet nicht nur die alle zeichnende Hasenscharte, sondern auch das allzu oft durchbrechende animalische Verhalten. Neben dem im ersten Stock, in dem der Vater versteckt gehalten wird, scheint auch der Keller des Sanatoriums einige dunkle Geheimnisse zu beherbergen.

Die etwa 100 Minuten Film quellen beinahe über vor Ideen, Anspielungen und nur im Vorbeigehen angetippten Verweisen – hätte Jensen diese alle ausformuliert und durchexerziert, wäre der Film wohl mehr als doppelt so lang geworden. Doch liegt der Charme und Reiz auch gerade in diesen mysteriös und zugleich monströs anmutenden Assoziationen. Bereits ADAMS ÄPFEL basiert auf einer biblischen Analogie, der Geschichte des von Gott geprüften Hiob. Und auch hier verweist Jensen auf Figuren aus der Bibel: den Propheten Elias und den Erzengel Gabriel – nicht umsonst kommen die beiden Brüder, einer gläubiger Christ, der anderen überzeugter Naturwissenschaftler, von außen in dieses hermetisch abgeriegelte Biotop und decken Schicht für Schicht das grausige Familiengeheimnis auf. Das verschachtelte Haus dient dabei quasi als geistiger Überbau, je mehr die beiden graben, desto weiter entfernen sie sich von der Wahrheit und geraten ob der Absurdität des Familienkonstrukts ins Straucheln – beinahe schon kafkaesk. So verwundert es nicht, dass die ansässigen Halbbrüder just Franz, Josef (K.?) und Gregor (Samsa?) heißen. Der Vater Thanatos, auch sein Name ist hier Programm, schwebt wie ein Damoklesschwert über den Männern.

Anders als Kafka deutet Jensen die Auflösung jedoch an, lässt aber gleichzeitig einen Großteil der Fragen, die sich sowohl den Brüdern als auch dem Zuschauer stellen, offen. Für einen gänzlich offenen Ausgang ist Jensens Erzählweise aber dann doch zu konkret und seine Freude am Morbiden zu ausgeprägt, als dass er sich das abschließende Gruselszenario entgehen ließe. Das tut dem Film aber keinen Abbruch, denn gerade weil er seine Figuren und sein Publikum im Moment der angedeuteten Auflösung, im Schauder und im Schock alleine lässt, hinterlässt er einen Zwitter aus Haudraufkomödie und zynischem Kommentar auf den heutigen Trend der mit wissenschaftlichen Hilfsmitteln erzwungenen Selbstoptimierung.


Dänemark 2015 – Drehbuch und Regie: Anders Thomas Jensen:. Kamera: Sebastian Blenkov. Mit: Mads Mikkelsen, David Dencik, Nikolaj Lie Kaas, Søren Malling, Nicolas Bro. Verleih: DCM Film Distribution GmbH, 104 Minuten. Kinostart: 2. Juli 2015.