A day in the life – die Kunstfigur Nick Cave erzählt in einer fiktiven Dokumentation von sich selbst
Der Australier Nick Cave zählt seit nun über 30 Jahren zu den Underground-Rockgrößen. Mit seinen Bands Birthday Party, Nick Cave and the Bad Seeds und zuletzt Grinderman liefert er regelmäßig dichte, narrative und mythologisch aufgeladene Alben ab, seine Live-Auftritte sind legendär. Neben den Bandprojekten schreibt Cave auch Bücher (And the Ass Saw the Angel und The Death of Bunny Munroe), ebenso düster und abgründig wie seine Musik, Drehbücher (THE PROPOSITION) und Soundtracks (THE ASSASSINATION OF JESSE JAMES, THE PROPOSITION, LAWLESS). Er übernahm kleinere Filmrollen in John Hillcoats GHOSTS… OF THE CIVIL DEAD, Tom DiCillos JOHNNY SUEDE und Andrew Dominiks THE ASSASSINATION OF JESSE JAMES BY THE COWARD ROBERT FORD. In den beiden letzteren trat er als Musiker auf, eine Verquickung seiner Musikerpersona mit den Filmfiguren. Diese Persona, die Kunstfigur Nick Cave, machen Iain Forsyth und Jane Pollard zum Zentrum ihres Films 20,000 DAYS ON EARTH. Auf den ersten Blick eine Dokumentation über Nick Caves Schaffen, doch hält der Film lediglich oberflächlich die Form einer Doku ein. Er begleitet Nick Cave an seinem 20.000sten Lebenstag, vom morgendlichen Aufstehen bis spät in die Nacht hinein: Vormittags hat er eine Sitzung beim Psychologen, fährt dann seinen Freund und Musikerkollegen Warren Ellis besuchen, isst mit ihm zu Mittag, besichtigt ein Nick Cave-Archiv, hilft den Betreibern, einzelne Stücke zu beurteilen und zuzuordnen, schreibt einen Song für das neue Album PUSH THE SKY AWAY, probt mit den Bad Seeds, nimmt den Song auf und abends spielt die Band ein gemeinsames Konzert. Doch diese Zeitschiene ist lediglich der rote Faden, an welchem sich Forsyth und Pollard mit einem sehr experimentellen Zugang der Figur Nick Cave nähern. Stetige Sprünge in Raum und Zeit machen deutlich, dass es sich hier um keine klassische Dokumentation handelt. Cave lebt in Brigthon, die Aufnahmen zu PUSH THE SKY AWAY fanden in Frankreich statt, der Live-Auftritt in Sydney. Zudem ist das gezeigte Archiv ursprünglich in Sydney und wurde für den Film in England nachgebaut.
Nick Caves konstante Voice-Overs, in welchen er seine Geschichte als Rockstar reflektiert, verdeutlichen: Hier geht es nicht darum, den Mann hinter der Kunstfigur zu ergründen, 20,000 DAYS ON EARTH ist eine collagenartige Reflexion der Persona, die Cave in all den Jahrzehnten um sich herum aufgebaut hat. Nicht ohne Grund hat er selbst am Drehbuch mitgearbeitet, quasi ein selbstreflexiver, sich immer wieder erneuernder Prozess. So legt er sich auch im Drehbuch die gedankenvollen Worte in den Mund, es gehe ja darum, sich die eigene Geschichte zurechtzulegen und anschließend immer und immer wieder zu erzählen und neu zu gestalten. Er habe früh begonnen, sein Rockstarimage zu pflegen – Caves Kunstfigur als stetige Work in Progress, Nick Caves selbstkreierte Persona spricht hier immer in der Rolle über sich selbst. Dieses Paradoxon erheben Forsyth und Pollard zum Prinzip des Films und zum Geheimnis hinter Caves Erfolg.
So zeigt 20,000 DAYS ON EARTH genau diesen Prozess, stellt Nick Caves fortwährendes inneres Wiederholen der eigenen Erinnerungen, seiner „Story“, aus – die fiktionalen Sitzungen beim Psychiater sind der direkteste Zugang und wirken etwas holprig und ungelenk, machen aber die Funktionsweise des Films früh deutlich. Die Fahrten zwischen den einzelnen Terminen dienen demselben Zweck, sind jedoch homogener in die übrige Collage eingepasst: Cave führt imaginierte Gespräche mit früheren Weggefährten – Ray Winstone, der in THE PROPOSITION mitspielte, Blixa Bargeld, der lange Jahre bei den Bad Seeds mitwirkte und Kylie Minogue, mit der er das Duett „Where the Wild Roses Grow“ aufnahm.
Bei so viel Cave über Cave, mit Cave und Caves Musik kann es passieren, dass der Film in Selbstbeweihräucherung und Überheblichkeit kippt – die erwähnte Sitzung beim Psychiater ist hart an der Grenze. Einige Zuschauer werden hier abschalten und sich nicht mehr auf den Rest des Filmes einlassen wollen. Doch hat Caves Figur auch selbstironische Züge, selten hat man ihn herzlich lachen sehen. Im Nick Cave-Archiv kommentiert er ein in jungen Jahren verfasstes Testament, das all sein Hab und Gut einem zu gründenden „Nick Cave Memorial Museum“ vermacht, mit einem breiten Grinsen: „I was always a kind of ostentatious bastard.“
Die zuvor umkreiste Persona findet mit dem abschließenden Live-Auftritt im Sydney Opera House ihren Höhepunkt: Wer Nick Cave je live erlebt hat, weiß, dass er einen ganzen Konzertsaal elektrifizieren kann, er kehrt den apokalyptischen Prediger hervor, der das gesamte Publikum in seinen Bann zieht. Hat er zuvor noch mit Warren Ellis über legendäre Konzerte von Nina Simone und Jerry Lee Lewis sinniert, wie die beiden das Publikum durch wilde Blicke hypnotisierten und transformierten, ist es nun seine Performance, die die Zuhörerschaft fesselt.
Dieser Live-Block ist einer der stärksten Momente des Films, der nicht nur Caves Bühnenpräsenz verdeutlicht, sondern auch die Persona als dauerhaften Prozess der Selbstreflexion zusammenfasst: Cutter Jonathan Amos, zurecht auf dem Sundance Festival für seine Arbeit prämiert, hat in einer sensationellen Montage Liveauftritte aus allen Jahrzehnten minuziös zusammengeschnitten und so Caves beschwörende und wilde Gestik als essenziellen Teil dieser stetigen Selbstaktualisierung entlarvt. Forsyth and Pollard gelingt mit 20,000 DAYS ON EARTH, die vielen Schichten der Kunstfigur Nick Cave aufzufächern und seine in den narrativen Songs aufgebaute Welt mit ihr in Beziehung zu setzen. Den Mann dahinter bekommt der Zuschauer nicht zu Gesicht, aber bei dem großen Aufwand, den er um seine Rockpersona betreibt, bleibt offen, ob reale und fiktive Identität mittlerweile nicht schon Eins geworden sind.
20, 000 Days on Earth, GB 2014 – Regie: Iain Forsyth, Jane Pollard. Drehbuch: Nick Cave, Iain Forsyth, Jane Pollard. Kamera: Erik Wilson. Musik: Nick Cave, Warren Ellis Darsteller: Nick Cave, Warren Ellis, Ray Winstone, Blixa Bargeld, Kylie Minogue. Produktion: Pulse Films, Film4, BFI, Corniche Pictures. Verleih: Rapid Eye Movies, 97 Minuten. Kinostart: 16.10.2014.